Wie Gutachten medizinischen Fortschritt antreiben
Wer einen Behandlungsfehler vermutet, kann seinen Fall bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen kostenfrei prüfen lassen. Das hat einen bemerkenswerten Nebeneffekt: Die dabei entstehenden Fallberichte sind ein wichtiger Baustein der Fehlerkultur in der Medizin – sogar Motor für den medizinischen Fortschritt.
Manche Fehler sieht man erst, wenn man sie schwarz auf weiß vor sich hat. Und so sammeln sich bei Fritz Keller die Krankenakten. Röntgenbilder, Arztbriefe, Operationsberichte – jeder Fall erzählt eine persönliche Geschichte. Es geht um ärztliche Behandlungsfehler – „mutmaßliche“, betont Fritz Keller, ein Richter im Ruhestand – und auch um den Anspruch, aus all diesen echten und angeblichen Fehlern zu lernen.
„Jeder Arzt, jede Ärztin kann auch mal einen Fehler machen“, sagt Dr. Ellen Lundershausen. „Entscheidend ist, was wir daraus machen.“ Die Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde ist Vizepräsidentin der Bundesärztekammer und setzt sich für eine offene Fehlerkultur in der Medizin ein. In ihrer Funktion als Vorsitzende der Ständigen Konferenz Gutachterkommissionen/Schlichtungsstellen kennt sie beide Seiten – die der mit Vorwürfen konfrontierten Ärztinnen und Ärzte sowie die der Betroffenen. Für sie sind die Gutachten mehr als Einzelfallentscheidungen – sie sind Lernstoff. „Das Wissen, das hier entsteht, trägt dazu bei, Medizin weiter zu verbessern“, sagt sie.

Zur Person
Dr. Ellen Lundershausen ist Mitinhaberin einer Praxis für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Erfurt. Nach Jahren als Fachärztin in HNO- und Kieferkliniken ließ sie sich 1991 nieder. Sie war Vizepräsidentin des Deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte, Präsidentin der Landesärztekammer Thüringen und ist seit 2019 Vizepräsidentin der Bundesärztekammer.
Die Schlichtungsstellen klären mutmaßliche Fehler auf, indem sie medizinische Gutachter hinzuziehen. Das sind Ärztinnen und Ärzte, die sich in einem bestimmten Fachgebiet besonders gut auskennen, ihre Expertise fließt in die Gutachten ein. Mit der Berufserfahrung und dem fachlichen Überblick, den sie haben, liefern sie oft wertvolle Hinweise, wie sich Abläufe verbessern lassen, oder zeigen auf, wo in der Praxis Risiken bestehen, die bislang übersehen wurden.
Fehleraufklärung ohne Prozess
Auch Fritz Keller arbeitet mit solchen Fachgutachten. Er ist juristisches Mitglied der „Schlichtungsstelle für Arzthaftungsfragen“ der Landesärztekammer Thüringen. Insgesamt gibt es in Deutschland sechszehn dieser Institutionen, sie heißen Schlichtungsstellen oder Gutachterkommissionen und sind bei den Landesärztekammern angesiedelt. Die erste dieser Einrichtungen wurde vor 50 Jahren in Nordrhein gegründet. Der Gedanke dahinter: Wer sich fehlerhaft behandelt sieht, soll das auch ohne den mühsamen Weg zu Gericht aufklären lassen können.
Wie niedrigschwellig der Zugang ist, erklärt Fritz Keller: „Um einen Antrag einreichen zu können, brauchen die Betroffenen nicht mehr als ihre Krankenakten, Befunde, Behandlungsunterlagen, all das, was ihre behandelnden Ärzte dokumentiert haben“, sagt er. „Und wenn die Antragsteller uns dann noch mitteilen, was aus ihrer Sicht falsch gelaufen war, worin der vermutete Behandlungsfehler bestand, können wir schon loslegen.“
Bevor der Jurist für die Landesärztekammer tätig wurde, war er Präsident des Thüringer Landessozialgerichts. Er weiß aus eigener Anschauung, wie sich Schlichtungsverfahren von gerichtlichen unterscheiden. „Für Anträge bei der Schlichtungsstelle braucht man als Betroffener keinen Anwalt. Auch Gerichtsgebühren oder Gutachterhonorare fallen keine an. Es ist ein vollkommen kostenloses Angebot.“ Daneben punkten die Verfahren mit Schnelligkeit: „Gerichte beauftragen ebenfalls unabhängige medizinische Gutachter, wenn der Verdacht auf einen Behandlungsfehler im Raum steht“, sagt Keller. „Doch das Verfahren dort dauert meist deutlich länger.“
Verfahren vor den Schlichtungsstellen enden nach durchschnittlich 15 Monaten mit einer Entscheidung. Bei Schadenersatzklagen im Medizinrecht vergehen bis zu einem Urteil im Regelfall mehrere Jahre. Dafür geht aus einem entsprechenden richterlichen Urteil ein Rechtsanspruch auf Schadenersatz hervor, während die abschließenden Bewertungen der Schlichtungsstelle unverbindlich sind.
Dennoch haben sie Auswirkungen im realen Leben. „Erkennen unsere Gutachter einen Behandlungsfehler und einen klaren Zusammenhang mit dem Gesundheitsschaden, kommt meistens ein Entschädigungsangebot von den Haftpflichtversicherern der Kliniken und Ärzte. Laut der juristischen Literatur werden sogar 85 bis 90 Prozent der Streitigkeiten ohne Inanspruchnahme der Gerichte befriedet.“
„85 bis 90 Prozent der Streitigkeiten werden ohne Gerichte befriedet“
Fritz Keller
Nach Erfahrung des Richters im Ruhestand haben diese Verfahren zudem einen Wert für die Allgemeinheit, auch er hält sie für einen Motor des medizinischen Fortschritts. Hier brächten sie Lücken in Behandlungsempfehlungen ans Licht, dort zeigten sie, welche Rahmenbedingungen in Kliniken oder Praxen Fehler begünstigen können. Das seien Fälle, aus denen sich praktische Anleitungen für eine bessere Medizin ableiten ließen.
Ein Korpus aus anonymen Fallberichten
Einmal im Jahr sichtet Keller deswegen gemeinsam mit seinem ärztlichen Kollegen, einem Facharzt für Chirurgie, alle Entscheidungen. Lehrreiche Fälle anonymisieren sie, damit sie als Fallberichte im Ärzteblatt des Bundeslandes öffentlich zugänglich gemacht werden können. Auch die anderen Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen gehen so vor, manche publizieren sogar monatlich. So ist über die Jahre ein ganzer Korpus an Wissen über die Risiken gängiger medizinischer Behandlungen entstanden. Jahr für Jahr kommen weitere bemerkenswerte Fälle hinzu.
Viele der anonymisierten Berichte sind online öffentlich zugänglich und werden von Ärztinnen und Ärzten genutzt. Andere interessieren die Wissenschaft: Forschende fragen in den Archiven der Schlichtungsstellen Fälle für Studien ab, in der medizinischen Datenbank Pubmed finden sich Dutzende Untersuchungen, die auf Gutachten dieser Art beruhen. Sie beleuchten zum Beispiel, wann Eingriffe an der Halswirbelsäule mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko einhergehen oder welche Ursachen in der Augenheilkunde häufig zu Fehlern führen.
Eine dieser Arbeiten stammt von Jochen Windfuhr, Hals-Nasen-Ohrenarzt an den Maria-Hilf-Kliniken in Mönchengladbach. Seine im Jahr 2013 erschienene Arbeit untersuchte Zwischenfälle nach Gaumenmandeloperationen. Neben Gerichtsurteilen und Akten der Rechtsmedizin hatte Windfuhr auch 49 Entscheidungen von Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen zur Verfügung gestellt bekommen – seine Studie warnte bei den sogenannten Tonsillektomien vor Blutungen als seltenen, aber potenziell tödlichen Nachwirkungen der Eingriffe. In den Jahren danach gingen daraus neue Leitlinien für diese Operationen hervor.
„Wir behandeln nach bestem Wissen und Gewissen. So, wie wir in der Ausbildung, in der Weiterbildung, in der Fortbildung gelernt haben“, sagt Lundershausen. Indem medizinische Gutachter angebliche Behandlungsfehler aufklärten, entstünde neues Wissen, und das mache die Medizin besser und besser. „Diese Gutachten sind ein Motor des medizinischen Fortschritts.“
Hintergrund
Fritz Keller war 1993 als Richter nach Thüringen abgeordnet worden. Hier war er erst am Kreisgericht Erfurt im Einsatz, wurde 1994 Richter am Sozialgericht Gotha und dann am Landessozialgericht. 2002 stieg er dort zum Vorsitzenden Richter auf, 2008 wurde er zum Präsidenten ernannt. Zuständig war er unter anderem für Verfahren zur gesetzlichen Unfallversicherung. 2020 ging Keller in den Ruhestand. Seit dem 1. April 2021 organisiert und verantwortet er zusammen mit seinem ärztlichen Kollegen, dem Chirurgen Dr. Klaus Bickel die „abschließenden Bewertungen“ der „Schlichtungsstelle für Arzthaftungsfragen der Landesärztekammer Thüringen“.
Die Landesärztekammern unterhalten insgesamt sechzehn Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen. Als erste entstanden 1975 die Schlichtungsstelle Nordrhein und 1976 und 1977 die Gutachterkommissionen in Baden-Württemberg beziehungsweise Niedersachsen. Gegründet wurden alle drei als freiwillige Einrichtungen der Ärzteschaft mit dem Ziel, Patientinnen und Patienten eine außergerichtliche, kostenfreie Klärung von Behandlungsfehlervorwürfen zu ermöglichen und zugleich die Qualitätssicherung in der Medizin zu fördern. Formell zielen „Schlichtungsstellen“ auf Vermittlung und Einigung ab, während „Gutachterkommissionen“ einschätzen, ob ein Behandlungsfehler-Vorwurf zutrifft oder nicht. Alle sechzehn Stellen arbeiten mit einem Netz aus Fachgutachtern, die den erhobenen Vorwurf nach wissenschaftlichen Kriterien als richtig oder falsch klassifizieren.