Offener Brief an Bundesgesundheitsministerin Nina Warken zur geplanten Apothekenreform
Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
Apotheken sind eine tragende Säule der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Sie sichern die wohnortnahe Abgabe von Arzneimitteln, beraten Patientinnen und Patienten mit hoher fachlicher Kompetenz und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Arzneimittelversorgung der Bevölkerung. Die ärztliche Profession weiß die Rolle der Apotheken als Partner, insbesondere bei Fragen der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS), sehr zu schätzen.
Es ist nachvollziehbar, dass Ihr Haus Reformen zur Stärkung der Apotheken vorbereitet. Wir unterstützen ausdrücklich Maßnahmen, die die wirtschaftliche Basis der Apotheken stabilisieren, die Fachkräftesicherung verbessern und Bürokratie abbauen. Eine Stärkung der ländlichen Apotheken, eine flexiblere Organisation der Notdienste sowie Entlastungen bei Retaxationen sind richtige und notwendige Schritte.
Mit großer Sorge blicken wir jedoch auf die Pläne aus Ihrem Hause, Apotheken künftig mit Aufgaben zu betrauen, die einer ärztlichen Qualifikation zwingend bedürfen. Die vorgesehene Möglichkeit, verschreibungspflichtige Medikamente ohne ärztliche Verordnung abgeben zu können – sei es bei Folgerezepten für chronisch erkrankte Menschen oder bei vermeintlich „unkomplizierten Erkrankungen“ – überschreitet aus unserer Sicht eine rote Linie.
Das bewährte Vier-Augen-Prinzip – Ärztinnen und Ärzte diagnostizieren und verschreiben, Apothekerinnen und Apotheker prüfen und geben Arzneimittel ab – ist ein zentrales Qualitätsmerkmal der Patientenversorgung. Wird dieses Prinzip aufgeweicht, drohen fehlerhafte und damit gefährliche Arzneimitteltherapien, eine riskante Fragmentierung der Versorgung und ein Verlust an Patientensicherheit. Eine Apothekerin oder ein Apotheker am Tresen kann nicht zuverlässig erkennen, ob ein vermeintlich unkomplizierter Harnwegsinfekt nicht doch gerade einen komplizierten Verlauf nimmt oder eine andere ernsthafte Erkrankung dahintersteckt. Apothekerinnen und Apotheker verfügen nicht über die notwendige fachliche Qualifikation, eine solche Einschätzung vorzunehmen. Die Vorstellung, Arztpraxen würden auf diese Weise entlastet, greift zudem ins Leere, während gleichzeitig die Koordinierungsfunktion der Ärztinnen und Ärzten im Rahmen eines einzuführenden Primärarztsystems, konterkariert wird. Im Gegenteil, es entstehen Doppelstrukturen, die mehr Bürokratie als Entlastung schaffen. Gerade chronisch kranke Menschen profitieren von kontinuierlicher ärztlicher Begleitung bei der Arzneimittelverordnung. Nur so lassen sich notwendige Therapieanpassungen vornehmen sowie Komplikationen und riskante Wechselwirkungen frühzeitig erkennen und die Patientensicherheit gewährleisten.
Ähnliches gilt für die geplante Ausweitung der Impf- und Diagnostikleistungen in Apotheken. Grippe- und Corona-Schutzimpfungen werden derzeit in Apotheken in relevantem Umfang weder angeboten noch nachgefragt. Gleichzeitig belegen Studien – sowie praktische Erfahrungen –, dass Impfquoten vor allem durch ärztliche Koordination und Begleitung steigen und eben nicht durch das Schaffen zusätzlicher Impfstellen. Wenn alle verantwortlich sind, übernimmt schlussendlich keiner die Verantwortung. Die vorgeschlagenen Maßnahmen drohen das ohnehin komplexe System weiter zu zersplittern, anstatt die Versorgung gezielt verbessern zu helfen.
Aus ärztlicher Sicht sehen wir auch die Einführung von Früherkennungsuntersuchungen und Screeningtests in Apotheken mit großer Skepsis. Derartige Angebote erzeugen das Risiko einer Vielzahl falsch-positiver und nicht aussagekräftiger Befunde mit dem Ergebnis großer Verunsicherung auf Patientenseite. Damit einher ginge ein erheblicher diagnostischer Nachbearbeitungsaufwand mit steigenden Kosten für das Gesundheitssystem und eine Belastung von wertvollen fachärztlichen Ressourcen. Eine verantwortungsvolle Ausweitung solcher Leistungen muss zwingend an den Nachweis geknüpft sein, dass die eingesetzten Verfahren einen klar belegten Nutzen für Patientinnen und Patienten haben sowie gesundheitsökonomisch sinnvoll sind. Nur wenn Evidenz und Effizienzsteigerung im Gesamtsystem gegeben sind, rechtfertigt dies einen breiten Einsatz solcher Tests. Bisher liegen wissenschaftliche Untersuchungen zu einer solchen Zweckmäßigkeit jedoch nicht vor.
Sehr geehrte Frau Ministerin,
wir bitten Sie eindringlich, diese Pläne zu überdenken. Der Wille zur Stärkung der Apotheken darf nicht dazu führen, dass Aufgaben an Apotheken ausgelagert werden, die originär ärztliche Qualifikationen erfordern. Arztpraxen und Apotheken sind Partner zum Wohle der Patientinnen und Patienten – aber in klar definierten Rollen entsprechend ihrer Qualifikationen, die gemeinsam höchste Patientensicherheit und Versorgungsqualität gewährleisten.
Wir regen daher eindringlich an, im Rahmen der geplanten Reformen zur Stärkung der Apotheken, von jeglichen Überlegungen einer Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten ohne ärztliche Verordnung sowie einer Ausweitung von Impfungen und Früherkennungsuntersuchungen in Apotheken Abstand zu nehmen.
Gerne stehen wir für einen konstruktiven Austausch zur Verfügung, wie Apotheken sinnvoll gestärkt werden können und gleichzeitig die Patientensicherheit gewahrt bleibt.
Mit freundlichen Grüßen
Christine Neumann-Grutzeck
Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten e.V. (BDI)
Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth
Dr. Markus Beier
Hausärztinnen- und Hausärzteverband
Dr. Michael Hubmann
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ)
Dr. Andreas Gassen
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
Dr. Klaus Reinhardt
Bundesärztekammer
Dr. Susanne Johna
Marburger Bund
Prof. Dr. Anke Lesinski-Schiedat
Hartmannbund
Dr. Dirk Heinrich
Spitzenverband Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands e.V. (SpiFa)
Dr. Dirk Heinrich
Virchowbund
Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e.V.