Reinhardt: „Bei Reformen das Knowhow der Praktiker vor Ort einbeziehen“

126. Deutscher Ärztetag

Bremen – Die Ärzteschaft in Deutschland hat zur Eröffnung des 126. Deutschen Ärztetages in Bremen dringend notwendige Reformen im Gesundheitswesen gefordert. „Wir stehen in Kliniken und Praxen vor einer enormen Ruhestandswelle unter Ärztinnen und Ärzten. Die Bundesländer müssen umgehend rund 6.000 zusätzliche Medizinstudienplätze schaffen, um diesen Wegfall zu kompensieren. Gleichzeitig muss die Finanzierung unserer Kliniken, die Planung der Krankenhauslandschaft und die Zusammenarbeit von Praxen, Kliniken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens vollkommen neu gestaltet und enger vernetzt werden“, sagte Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt in seiner Eröffnungsrede.

Reinhardt forderte, die Ärzteschaft unbedingt in die Vorbereitungen der anstehenden Krankenhausreform einzubeziehen. „Es braucht das Knowhow der Praktiker vor Ort, um wirklich praxistaugliche Lösungen für eine Krankenhausreform zu finden“, sagte der BÄK-Präsident im Beisein von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach. So müsse beispielsweise die Vergütungssystematik für die Kliniken mehr Vorhalteleistungen für Notfälle und Krisenzeiten beinhalten.

Die Bundesländer kommen seit Jahren nicht ihren Investitionsverpflichtungen für die Krankenhäuser nach. Die Kliniken müssen deshalb Investitionen aus Mitteln finanzieren, die eigentlich für die medizinische Versorgung vorgesehen sind. Diese Art von Querfinanzierung erhöhe den wirtschaftlichen Druck auf den Stationen, worunter auch die Patientinnen und Patienten leiden. Reinhardt forderte, dass der Bund hier Verantwortung übernehmen und eine Ko-Finanzierung der Investitionskosten realisieren müsse.

Die Pandemie habe außerdem die Notwendigkeit einer deutlich engeren Zusammenarbeit von Praxen, Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen verdeutlicht. „Seit Jahren wird von der Politik die sogenannte sektorenübergreifende Versorgung beschworen, aber passiert ist bisher wenig“, kritisierte Reinhardt. Er appellierte an den Bundesgesundheitsminister, die Ankündigungen im Koalitionsvertrag für eine engere personelle und digitale Vernetzung der Versorgungsbereiche schnell und umfassend umzusetzen. Die Ärzteschaft stehe insbesondere einer intensiveren Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsfachberufen offen und positiv gegenüber.

Um den Einsatz sinnvoller digitaler medizinischer Anwendungen zu beschleunigen, sprach sich Reinhardt für ein Praxiszukunftsgesetz aus. Mit diesem Gesetz sollten Investitionshilfen der öffentlichen Hand ermöglicht werden, um eine stärkere digitale Vernetzung und Kommunikation mit anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens zu fördern. Vor einem verpflichtenden bundesweiten Einsatz neuer digitaler Anwendungen bedürfe es umfangreich und vor allem erfolgreicher durchgeführter Tests zur Praxistauglichkeit und zum medizinischen Nutzen der digitalen Tools.

Eine weitere Lehre aus der Pandemie sei die Förderung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung. Reinhardt sprach sich für die Einführung eines Schulfaches Gesundheit aus. Auch sollte Gesundheitsförderung stärker als Querschnittsaufgabe unterschiedlicher Politikfelder begriffen werden. Im Sinne des Ansatzes „Health in all Policies“ sollte Prävention neben der Gesundheitspolitik auch in der Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Stadtentwicklungs-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik handlungsleitend sein.

Reinhardt betonte, die Ärzteschaft übernehme nicht nur für die Gesundheit des Einzelnen Verantwortung, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Dies stelle sie unter anderem mit ihrem großen Engagement bei der Bewältigung der humanitären Folgen des Krieges in der Ukraine unter Beweis. Mehr als 1.600 Ärztinnen und Ärzte hätten sich bei der Bundesärztekammer für einen Einsatz in der Ukraine und in den Nachbarstaaten registrieren lassen. Sobald die Bundesregierung Hilfe im Rahmen internationaler Einsätze anfordert, könne die BÄK ausreichend Ärzte vermitteln.

Die Zerstörung der medizinischen Infrastruktur bedrohe auch die Gesundheit und das Leben der nicht unmittelbar von den Kriegshandlungen betroffenen Bevölkerung. Direkt an den anwesenden Vertreter der Ukrainian Medical Association, Prof. Dr. Andriy Bazylevych, gewandt sagte Reinhardt: „Was Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen in Ihrem Land leisten, ist im besten Sinne ärztlich“.