Westfalen-Lippe: Kammerpräsident Gehle stellt klar: Die Politik muss handeln und darf nicht länger Parteiinteressen über das Gemeinwohl stellen
Münster - Vor dem Hintergrund der im Deutschen Bundestag beschlossenen Änderungen des Infektionsschutzgesetzes und den aktuellen Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz fordert der Vorstand der Ärztekammer Westfalen-Lippe von den politisch Verantwortlichen im Bund und in den Ländern ein noch entschlosseneres Handeln im Kampf gegen die Corona-Pandemie. In der Vergangenheit habe die Politik „in von Wahlkämpfen gekennzeichneten Zeiten das Parteiinteresse über das Gemeinwohl und die Daseinsfürsorge des Staates gestellt“, kritisiert Kammerpräsident Dr. Hans-Albert Gehle im Namen des gesamten ÄKWL-Kammervorstandes. „Es wäre schön gewesen, wenn die Politik im Corona-Kampf mehr auf die ärztliche Expertise gehört hätte. Die Pandemie lässt sich nur mit entschlossenem und konsequenten Handeln bewältigen. Das Virus gibt nicht auf. Karneval, Weihnachtsmärkte oder Weihnachtssingen im Stadion passen leider gerade nicht in unsere Zeit. Und wir brauchen den Lockdown für Ungeimpfte jetzt.“ Gehle fordert von der Politik eine breite und regelmäßige Informationskampagne, um die Impfbereitschaft in der Bevölkerung zu steigern: „Quasi ein `7. Sinn` zum Thema Impfen, gerne tagtäglich und vor jedem Werbeblock.“
Der Appell des Vorstandes der Ärztekammer Westfalen-Lippe im Wortlaut:
Die Pandemielage ist dramatisch. Die Corona-Inzidenzen steigen exponentiell, die Impfquote in der Bevölkerung stagniert, Impflücken können nicht geschlossen werden. Die aktuelle Situation in der Gesundheitsversorgung ist derzeit wieder äußerst besorgniserregend: verringerte Bettenkapazitäten auf den Intensivstationen bei steigender Auslastung, fehlende Ärztinnen und Ärzte und fehlendes Fachpersonal auf den Intensivstationen, planbare Operationen müssen verschoben werden, die Praxen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen arbeiten ebenfalls am Limit der Belastung. Die Prognosen können dabei keine Entwarnung geben, ganz im Gegenteil.
Dies alles kommt nicht überraschend. Bereits im Juli – vor 4 Monaten! – haben verschiedenste Experten sowie auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der verfassten Ärzteschaft damit begonnen, auf diese drohende Entwicklung hinzuweisen und ein frühzeitiges und konsequentes Entgegenwirken gefordert. Hierzu gehören jetzt zum einen die zügige Steigerung des Impftempos etwa durch Beteiligung der Krankenhäuser mit dort angesiedelten dezentralen Impfzentren und der Betriebsärzte, zum anderen durch die tägliche Versorgung der Niedergelassenen mit Impfdosen und der Unterstützung der Praxen bei den Wochenend-Impfangeboten, die die Ärzteschaft bereits organisiert; zudem durch eine umfassende Impfkampagne, die Einführung von einheitlichen und kontrollierbaren Zugangsregelungen zum öffentlichen Leben oder eine frühe Vorbereitung der Booster-Impfungen. Dabei bedarf es keiner politischen Priorisierungen – die Entscheidung darüber, wer wann welche Impfung erhält, ist medizinische Aufgabe. Hier muss die Politik der Ärzteschaft Vertrauen entgegenbringen.
Im Gegensatz zu einem einheitlichen politischen Vorgehen hat sich ein Flickenteppich von Pandemiemaßnahmen und –regelungen in den einzelnen Bundesländern entwickelt, der in der Bevölkerung für Unverständnis, Verunsicherung und teilweise auch Gleichgültigkeit und Lernunfähigkeit gesorgt hat. In der Ärzteschaft hat sich der Eindruck verfestigt, dass die jeweils politisch Verantwortlichen im Bund und auf Länderebene vor dem Hintergrund von Wahlkämpfen und Parteiengezänk nicht ihrer Verantwortung für das Gesundheitswesen und die Gesundheitsversorgung in einer besonderen Pandemie-Zeit gerecht wurden.
Deshalb müssen wir klarstellen: Von einer proaktiven und vorausschauenden Pandemie-Politik kann nicht die Rede sein. Ein politisches Weiter-so kann und darf es nicht geben. Die Politik in Bund und Land darf nicht länger Parteiinteressen über das Gemeinwohl und die Daseinsfürsorge des Staates stellen. Dies hält unser Gesundheitssystem gerade in einer Pandemie nicht mehr aus. Dies gefährdet die Menschen in unserem Land, dies gefährdet das Patientenwohl.
Wir fordern:
- Da die Infektionszahlen immer neue Pandemie-Höchstwert erreichen, müssen die Corona-Grundregeln weiterhin gelten: FFP2-Masken tragen, Abstandsregeln einhalten, Distanz halten, Kontakte auf das Notwendige einschränken.
- Die einheitliche 2GPlus-Regelung (geimpft oder genesen plus getestet) auch im Freizeitbereich, bei Sportveranstaltungen und kulturellen Veranstaltungen ist einzuführen.
- Um die Impflücken zu schließen, müssen verstärkt mobile Impfteams eingesetzt sowie ein aufsuchendes Impfangebot eingerichtet werden.
- Für Berufsgruppen mit erhöhtem Personenkontakt (Gesundheitsberufe, Schule/Kitas, Polizei, Feuerwehr, Einzelhandel) muss die Impfpflicht eingeführt werden; sollten die Pandemie-Zahlen weiter steigen, ist über eine allgemeine Impfpflicht nachzudenken.
- Es sind konsequente und kontrollierbare Kontaktbeschränkungen notwendig. Das heißt zB: Verbot von geselligen Großveranstaltungen und Weihnachtsmärkten, wenn keine konsequente Kontrolle gewährleistet ist
- Der „Lockdown für Ungeimpfte“ ist nicht zu vermeiden.
- Wir benötigen ein niederschwelliges und dezentrales Impf- und Boosterangebot, etwa durch Impfstraßen in Turnhallen. Auch die Ärzteschaft im Ruhestand ist hier bereit zu unterstützen
- Um das Impftempo zu erhöhen, muss die Zusammenarbeit zwischen Apothekern und Ärzteschaft verbessert werden: Apotheken ziehen auf – Ärzte impfen. Impfdosen müssen tagesaktuell zur Verfügung gestellt werden.
- Das Boostern durch die Ärzteschaft muss auf breiter Front geschehen: Die Booster-Impfungen müssen schnell, flexibel und unbürokratisch durchgeführt werden. Und alle, die impfen können, müssen mitimpfen: Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen tun es schon, Krankenhäuser und Betriebsärzte stehen bereit.
- Die logistischen Vorbereitungen für die Impfungen für Kinder zwischen 5 und 12 Jahren müssen umgehend starten, damit nach der Zulassung die Impfungen sofort beginnen können.