Biografische Anamnese

Deutsches Ärzteblatt 106, Heft 48 (27.11.2009), S. A-2432

Für die Durchführung einer Psychotherapie ist – unabhängig vom Verfahren oder Krankheitsbild – die Kenntnis der Lebensgeschichte des Patienten von essenzieller Bedeutung. Nicht zu Unrecht ist daher die Position Nr. 860 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) „Erhebung einer biographischen Anamnese unter neurosenpsychologischen Gesichtspunkten mit schriftlicher Aufzeichnung zur Einleitung und Indikationsstellung bei tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie, auch in mehreren Sitzungen“ mit einer vergleichsweise hohen Punktzahl ausgestattet: Die Bewertung spiegelt die potenzielle Bedeutung für die Behandlung und deren Erfolg wider. Der Text der Leistungslegende bezieht sich zwar auf die Einleitung und Indikationsstellung zu einer tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie, doch kann die Nr. 860 GOÄ auch für die Erhebung der biografischen Anamnese und Lerngeschichte im Rahmen einer verhaltenstherapeutischen Behandlung in analoger Weise angesetzt werden.

Die Abrechnungsbestimmung zur Nr. 860 GOÄ sieht vor, dass sie im Behandlungsfall nur einmal berechnungsfähig ist. Der Begriff des Behandlungsfalls bezieht sich hier nicht – wie in Abschnitt B I – auf den Zeitraum eines Monats, sondern auf die jeweils vorliegende Erkrankung oder Krankheitsepisode. Der Ausdruck Behandlungsfall ist daher mit Bezug auf Nr. 860 GOÄ als Krankheitsfall zu verstehen. Eine erneute Berechnung der Nr. 860 GOÄ in derselben Krankheitsepisode ist somit in der Regel nicht möglich, sondern erst, wenn deren Behandlung abgeschlossen ist und sich im Intervall bei erneuter oder wesentlich veränderter Symptomatik wiederum eine Therapiebedürftigkeit ergibt.

Die biografische Anamnese kann sowohl im Rahmen eines Besprechungstermins als auch, wie in der Leistungslegende vermerkt, in mehreren Sitzungen erhoben werden. Der Leistungsinhalt ist erst dann erfüllt, wenn die biografische Anamnese vollständig erhoben und die Befragung zur Vorgeschichte der Erkrankung oder Krankheitsepisode somit abgeschlossen ist.

Die vergleichsweise hohe Bewertung dieser Gebührenposition sollte sich dabei – auch im Erleben des Patienten – in einer hierfür tatsächlich aufgewandten angemessenen Zeitdauer widerspiegeln. Wenn beispielsweise eine Behandlung nach ein oder zwei psychotherapeutischen Sitzungen abgebrochen wird und die jeweiligen Patientenkontakte dabei kaum länger als die jeweilige Dauer der – abgerechneten – Behandlungssitzungen waren, sind daher Liquidationsstreitigkeiten programmiert, wenn zusätzlich die Nr. 860 für im Zusammenhang damit nebenbei erörterte biografische Fragestellungen angesetzt wird.

Andere ausführliche Anamnesen, etwa im Rahmen von internistischen Erkrankungen, müssen über Gebührenpositionen im Kapitel B, Grundleistungen und allgemeine Leistungen, zum Beispiel über die Nrn. 1, 3 oder 34 GOÄ abgerechnet werden.

Für eine biografische psychiatrische Anamnese bei Kindern oder Jugendlichen ist die korrespondierende Gebührenordnungsposition Nr. 807 GOÄ anzusetzen. Diese sieht in der Leistungslegende als obligaten Bestandteil auch die Befragung von Bezugs- und Kontaktpersonen vor.

Dr. med. Hermann Wetzel M. Sc.
(in: Deutsches Ärzteblatt 106, Heft 48 (27.11.2009), S. A-2432)